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Sekundärliteratur zum Thema Jürgen Vogdt




Dr. Gabriele Uelsberg über Jürgen Vogdt

"Holz", sagt Jürgen Vogdt, "trägt mich."

Wer sich mit der künstlerischen Arbeit von Jürgen Vogdt beschäftigt, ist immer wieder mit scheinbar widersprüchlichen Eindrücken und Einordnungen konfrontiert. Strenge Systematik in den Arbeitsbedingungen und spontane Unberechenbarkeit in den Formulierungen kennzeichnen sein in erster Linie zeichnerisches Werk, das seit vielen Jahren in vielteiligen Serien, gesetzten Bildblöcken und einzelnen Gemälden entstanden ist. Wie konsequent die Zielrichtung der Verdichtung durch Wiederholung und Reihung von Vogdt verfolgt wird, zeigt ein Rückblick auf sein bislang umfangreichstes Projekt,den Konrad­Bayer-Zyklus „Nina + Franz".

Vom 16. Juni 1977 bis zum 31. Dezember 1979, in dreißigeinhalb Monaten also, oder in 928 Tagen, von seinem 28. bis zum 31. Lebensjahr hat Jürgen Vogdt in Haffen-Mehr am Niederrhein — neben Arbeiten zum Broterwerb und zahlreichen Gemälden und Zeichnungen unterschiedlichen Formates — 7297 Zeichnungen DIN A 4 quer auf cremefarbigem, marmoriertem, „Elefantenhaut" genanntem, Papier hergestellt. Die Werkzeuge sind Bleistift, Farbstift (gelb, rot, grün, blau, braun), Schminke, Aquarell, Wachsmalkreide, Kopierstift, Lippenstift und Nagellack. Man sieht schon: Vogdt ist fleißig, ordentlich, methodisch — ein „Fließband-Künstler", der das Zeichnen der Zeichnung, die Tätigkeit dem Ergebnis vorzieht.

(Wolfgang Becker in: Bemerkungen zu einem Versuch der Bewältigung zu 1.297 Zeichnungen von Jürgen Vogdt, Katalog der Ausstellung: Jürgen Vogdt „Nina und Franz. 1.297 Zeichnungen zu Konrad Beyer„Der sechste Sinn", 1977 bis 1979. Ausstellung: Neue Galerie — Sammlung Ludwig, Aachen, vom 6. September bis 21. Oktober 1980.)

Welchem Anspruch folgt ein Künstler mit einer solchen Aufgabenstellung, die ihn zum einen als „fleißig, ordentlich und methodisch" erweist und ihn über einen langen Zeitraum zum Sklaven seiner eigenen Arbeit macht, die dennoch im Ergebnis der einzelnen Blätter jenen Grad von Spontanität und Offenheit erreicht, die sich jeder Systematisierung erfolgreich widersetzt? Ist Jürgen Vogdt der „hochgradig gereizte Zeichner", als den Heinz­Norbert Jocks ihn beschrieb, oder tastet Vogdt

„... in der manischen Tätigkeit des Zeichnens ... alle Möglichkeiten der streichelnden Handbewegung ab — von den naiven Abbildungen häuslicher Dinge bis zum bedeutenden, abstrakten Zeichen ... er benutzt alle zeichnerischen Möglichkeiten, eine differenzierte Skala von Erregungen auszudrücken", wie Wolfgang Becker bereits 1980 im Katalog zur Ausstellung „Nina + Franz" formuliert?

Die Kunst, so wie Jürgen Vogdt sie versteht, erschöpft sich nicht im Artistischen. Vielmehr macht sie sich selbst zum Gegenstand, fragt nach ihrer Identität und verweigert letztlich und konsequent die Antwort. In diesem Sinne hinterlassen die Zeichnungen und Gemälde von Vogdt einen eigentümlich zwiespältigen Eindruck beim ersten Betrachten. Erkennbares, Vertrautes, Abstrakt-Informelles, zuweilen auch Konkret-Dingliches sowie Schriften und Texte verdichten sich zu zeichnerischen Anagrammen, die sich in der nicht perspektivisch definierten Fläche des Bildes ihren eigenen Raum schaffen. In der Schnelligkeit zeichnerischer Umsetzung liegt Methode und erreicht analytische Qualität, was die Möglichkeiten bildnerischer Annäherung betrifft. Bei Vogdt bedeutet der bewusste Verzicht auf „seriöse" Ausführung der Zeichnungen, dass jede bemühte Darstellung eines bewusst trivialen Themas nur banal auf sich selbst verweisen würde und die letztendliche Frage nach der Realität der Abbildung erschwert wäre, wenn nicht unmöglich. Die Linien in den Zeichnungen und den Gemälden von Jürgen Vogdt sind dabei unmittelbar und direkt. Dennoch wirken sie nie selbstverständlich, artistisch oder gar gezirkelt, sondern wirken in dem Sinne fast „linkisch", dass sie keinen Regeln folgen und sich der Erwartungshaltung widersetzen.

Es ist durchaus möglich, bei diesen Arbeiten an unbewusste Kritzeleien oder Kinderzeichnungen erinnert zu werden. Mit dieser Handschrift erreicht der Zeichner, dass seine Linien keine festen und definierten Gebilde umschreiben, sondern Formen skizzieren, ohne Festlegung und ohne eindeutige Begrifflichkeit, Formen, die die Möglichkeiten offener Strukturen und Bedeutungen in sich tragen. Durch die Differenziertheit der Zeichnungen bleibt in den vielen Arbeiten von Jürgen Vogdt der Gang der Entstehung deutlich. Dieser Entstehungsduktus, der auf Prozesshaftigkeit hin angelegt ist, beinhaltet Zeit als einen unabschließbaren Faktor der Gestaltung, der immer nur einen Ausschnitt aus einer unendlichen Folge von Prozessen und Verläufen fixieren kann. In solcher Betrachtung erschließt sich der Kontext, in dem Vogdts Arbeiten sich in Serien entwickeln, bei denen sich die Offenheit der Gestaltung letztlich in der Variation und Wiederholung von inhaltlich konkreten Themen artikuliert.

Die spontan entstandenen Formen seiner Zeichnungen und Gemälde sind für mannigfaltige Identifikationen und Interpretationen offen. Sie sind, da nicht auf konkrete Geschichten oder wertende Kompositionen hin gestaltet, in einem Status des Entstehens festgehalten, der sich logischer oder narrativer Eindeutigkeit entzieht. In diesem Sinne wird auch deutlich, warum Vogdt die Zeichnung als wichtigstes gestalterisches Kriterium in seine Arbeit einbringt.

Zeichnen ist unmittelbar. In jeder Zeichnung steckt ein Überraschungsmoment, da in den Zeichnungen Zufall eine Rolle spielt, der in Assoziationen und Formen Dinge ansprechen kann, die nicht im Vorhinein vorstellbar oder konkret zu planen sind. Die Zufälle dabei sind nicht der gestalterische Wert als solcher, sondern sie stellen in der Vogdt eigenen Disziplin die Methode bereit, um Überraschung hervorzurufen, die sich der planerischen Vorgehensweise entzieht.

„Das Schicksal meiner Arbeiten bleibt in der Entstehung offen, sie erzählen mit Krakelüren und Symbolen einsilbige Geschichten, deren Wirkung oft erst in dem Erinnern, also der Zeit danach, erkannt werden."

„Was können wir tun?", war die Frage, die Joseph Beuys am meisten bewegte. Beuys' Zeichnungen lieferten für diese Art von Arbeit das klarste Beispiel. Was an ihnen fesselte, ist eine besondere Form der Unschärfe — nicht im Sinne einer verwackelten Fotografie, sondern als Unschärfe der spontan skizzierenden Hand.

In diesem Zusammenhang betrachtet sind Jürgen Vogdts Zeichnungen Diagramme, voll von spontanen, eigenwilligen Bewegungen. Es wirkt gerade so, als hätte sich das Denken mit der ausführenden Hand nicht ganz einigen können, was zu tun sei.

Die Zeichnungen verraten ein „Denken" der Hand, das mit dem „Denken" im Kopfe in kreativen Konflikt gerät.

Jürgen Vogdts Zeichnungen erweisen ihre gestalterische Eigenschaft gerade dadurch, dass sie sich scheinbar immer wieder mit Erfolg dem analytischen Zugriff einer begrifflich fixierenden Sprache entziehen. Die Bildformulierungen sind auf ihre eigenen Kriterien hin konzentriert. Die bildnerische Mitteilungskraft der Linien, der sparsamen Farbsetzungen, der kalligraphischen Spuren strukturieren den Bildgrund. Dabei sind Vogdts zeichnerische Formfindungen und Formlösungen von Assoziationen und Erinnerungen an außerbildliche Ereignisse und Objekte abgeleitet. Vogdt entwickelt daraus eine sehr persönliche Bildsprache, er nennt dies gerne Handschrift, die besondere Verhältnisse zwischen Thema und Bild bedingen. Für den Betrachter bleibt die Möglichkeit zum freien Umgang mit Bild und Inhalt offen.

Expression und Gestik sind in den Zeichnungen von Jürgen Vogdt bedingt durch die Schnelligkeit, und Heftigkeit der Umsetzung. Dieser Grad an Kraft in seinem Werk ist auch Bestandteil der Gemälde, wenngleich diese sich als zeichnerische Umsetzungen auf Leinwand erweisen und Jürgen Vogdt eindeutig als Zeichner bestätigen. ln diesem Sinne zeigen auch die Gemälde von Jürgen Vogdt ein hohes Maß an zeichnerischer Qualität und finden sich von daher auch häufiger auf Holzplatten und -untergründen denn auf klassischen Leinwänden.

„Holz“, sagt Jürgen Vogdt, „trägt mich“.

Die Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen oder die konkrete „Abarbeitung" von Bildvorlagen — seien es künstlerische Fotografien, TV-Momente oder auch triviale Magazinseiten, sehr oft mit pornografischem Anspruch, — bietet ihm dabei jenen Assoziationsgrund, aus dem sich sein Bildreservoir neben eigener Erinnerung und Erfahrung nährt. Unabhängig von den Vorlagen bleibt die bevorzugte Farbauswahl von Vogdt: Rot dominiert neben Weiß, Schwarz und Blau, Grün erscheint selten.

Die Skizzen entwickelt Vogdt mit schneller und geübter Hand. Dabei tritt eine gewisse Aktionalität bei den Papierarbeiten in den Vordergrund, die jedoch nichts mit den gestischen Ausbrüchen informeller Malerei gemein haben.

Die Fußspuren in etlichen Arbeiten zeigen dies deutlich. Dabei gibt er der Zeichnung trotz unterschiedlichster Malmaterialien wie Teer oder Sprühdosenlack einen Ordnungsrahmen, sei es in der Wahl immer gleicher Papierformate, sei es in der Vorbereitung für gleichgeartete Bildgründe für die Gemälde oder sei es in der direkten Auseinandersetzung mit Buchwerken. Dabei geht Jürgen Vogdt weit über das Adaptieren literarischer Vorstellungen hinaus und widmet sich dem Buch Seite für Seite; ein Ideenreservoir und Assoziationspotential, aus dem er seine Bezüge schöpft und es öffentlich, benutzt,wie viele Titel belegen. Diese konkret zu nennende Konfrontation mit Büchern, auch als bildnerischen Objekten, führt ihn in seiner Arbeit zur Reflexion und Aneignung von künstlerischen Arbeiten anderer Künstler. In der Verarbeitung von 48 Zeichnungen des amerikanischen Realisten Paul Wiesenfeld — Vorlage war der „Landshuter Katalog" — hat Vogdt ebensolche Serien von Zeichnungskommentaren entwickelt wie jüngst in der Auseinandersetzung mit zwei künstlerischen Fotobänden von Richard Kern und Mario Cravo Neto, die er Abbildung für Abbildung in ureigenes, zeichnerisches Potential umgewandelt hat.

Es geht nicht um Kopieren oder Illustrieren oder um analoges Umsetzen, sondern Vogdt entwickelt auf der festgefügten Basis der vorgefundenen Struktur eine eigene Sprache. Daraus entsteht eine eigene inhaltliche Auseinandersetzung. Die vorgefundenen Motive sind Anlass zur Arbeit, Bestätigung des versuchten Denkens und Konfliktergebnis zwischen Hand und Hirn. Die ständige Konfrontation mit selbst gewählten Reglementierungen bietet ihm in dieser Art und Weise die größte Freiheit eigenkünstlerischer Setzungen. Gleichsam als sei die Vorlage, der er sich serienweise widmet, der Zügel, an der die überbordende Kreativität geführt wird. Jürgen Vogdt wandelt in seiner künstlerischen Arbeit auf dem Grat zwischen vorgegebenen Strukturen freier Improvisation, erinnernder Anschauung und der Konkretion einer neuen Bildsprache. Diese Methode wendet er auch bei Auftragsarbeiten an, für die er sich alles, vom Thema über das Format bis zur Technik vorschreiben lässt.

Jene stetige Rückbeziehung auf Gelesenes, Geschehenes oder auch Empfundenes verweist auf eine Form bildnerischer Erinnerung. Gottfried Boehm (z) hat auf den besonderen Stellenwert der Kategorie der „Erinnerung" in bild­künstlerischen Konzepten der modernen Kunst hingewiesen.

„Die Bilder halten viel abgesunkenen Stoff bereit. An ihm arbeitet sich die Erinnerung, zum Teil vergeblich, ab. Vergessen ist gegenwärtig, jene ortlose Leere, wo die Kraft der Vergegenwärtigung erlahmt. (..)

(Gottfried Boehm: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. in: Boehm, Stierle, Winter. Herausgeber, Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag. München 1985, Seite 54/55)

Die Zeitform dieser Bilder resultiert aus dem Strömen der Zeichen in der Unbestimmtheit des weißen Bildraumes. Es ist der sedimentierende Vorgang des Erinnerns selbst, an dem wir teilnehmen. Innerhalb seiner ist vieles nicht wirklich festzumachen. Vieles bleibt Treibgut, das zu bildlicher Konsistenz nicht gelangt, sie lediglich umspielt. Der Erinnerungsprozess führt zu keinem objektiven Wissen. In bildlichen Spuren, in individuellen Färbungen verkörpert er sich."

Die Reihen von zeichnerischen Annäherungen in der Gestaltung von Jürgen Vogdt sind wie Verdichtungen der Erinnerung in der Gegenwart. Jürgen Vogdts Zeichensetzungen sind wie die Spuren der Mutter der Musen - der Mnemosyne. In ihrem Namen — dem Namen der antiken Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses - verbinden sich, ununterscheidbar, zwei Begrifflichkeiten: die der Kunst und die des Erinnerns.

Die Mutter der Musen ist es, die beides repräsentiert.

Mnemosyne ist damit die Verkörperung der Identität zwischen künstlerischem Tun und dem Vermögen des Erinnerns. Aber jene Erinnerungsarbeit, für welche die Muse Mnemosyne steht, die „Sinnende", die ihrer Sinne Mächtige, meint nichts anderes als ein solches Sammeln und Bergen von Vergangenem und Zukünftigem in der Gegenwart der Erzählung oder des bildnerischen Werkes — bei Vogdt im Zeichen und seiner Spur.

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